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KONTRASTE MUMBAIS

Von der drückenden Hitze und Feuchte schweissgebadet, erkunde ich ein Monat lang zu Fuss jeden Winkel dieser faszinierenden Stadt. Denn wie Johann Wolfang von Goethe schon feststellte; "Nur wo du zu Fuss warst, bist du auch wirklich gewesen". 

von Mathias Eicher

Mumbai, einst unter dem Namen "Bom Bahia" bekannt, was "schöner Strand" bedeutet, mag heute kaum noch für seine Strände berühmt sein, doch als Handelszentrum und eine der bevölkerungsreichsten Städte der Welt bleibt seine Bedeutung unbestritten. Jeder Schritt durch diese dichte Stadt offenbart die Hoffnungen und Träume der Menschen, die aus ganz Indien hierherkommen, angezogen von der Verheißung auf Ruhm, Erfolg und Reichtum. Ich höre einen lokalen Geschäftsmann, der die Situation in Mumbai mit einem Käfig voller Ratten vergleicht, die sich um ein Kilogramm Futter streiten müssen. Eine düstere Metapher, die die knappen Räume und die ständige Konkurrenz um lebenswichtige Ressourcen unterstreicht. Doch während ich weitergehe und den Worten des Mannes nachsinne, fühle ich, dass ein solcher Vergleich den Menschen hier nicht gerecht wird. Trotz der Enge und des täglichen Kampfes erlebe ich eine unerwartete Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Selbst im dichtesten Straßenverkehr oder auf den überfüllten Bahnsteigen, die Einwohner Mumbais scheinen immer bereit für ein freundliches Wort oder einen kurzen Austausch, auch mit einem Unbekannten wie mir.

Es führt mich mein Weg durch verschiedene Stadtteile, die das breite Spektrum der sozialen Schichtung offenbaren. Prunkvolle Anwesen und luxuriöse Apartments zeugen vom Wohlstand der reichsten Geschäftsleute und bekanntesten Künstler der Stadt.
Ein strahlender Kontrast zu den zahlreichen Slums, die sich ebenfalls über das Stadtbild verteilen. Trotz dieser eklatanten Unterschiede im Lebensstandard erlebe ich ein überraschendes Nebeneinander der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten.

Eines der verbindenden Elemente zwischen diesen Kontrasten ist der lokale Zug. Ich begebe mich zum Bahnhof, um diese Lebensader Mumbais selbst zu erleben. Im südlichen Teil der Stadt, dem Zentrum der wirtschaftlichen Aktivität, pulsiert das geschäftige Treiben. Doch mit zunehmender Nähe zum Zentrum steigen auch die Lebenshaltungskosten. Viele Menschen, die im weniger teuren Norden wohnen, nehmen daher täglich die strapaziöse Reise auf sich, um in den Süden zu pendeln. Die Verkehrswege sind zu Stoßzeiten hoffnungslos überlastet. Der Asphalt verschwindet unter einer Flut von Autos und Rikschas. Die Züge, in denen ich mich befinde, sind so überfüllt, dass es schwerfällt, sich zu bewegen. Trotzdem nutzen auch die wohlhabenderen Bewohner der Stadt diesen Weg der Fortbewegung. Sie haben erkannt, dass die Fahrt mit dem Auto, trotz des eigenen Komforts, im endlosen Stau viel länger dauern würde als die Reise im überfüllten Zug.

Eine Besonderheit dieses Zuges fällt sofort auf: Selbst in den dichtesten Stoßzeiten bleiben die Türen offen. Diese Eigenheit ist keine Nachlässigkeit, sondern eine Notwendigkeit, um den unaufhörlichen Fluss der Pendler zu gewährleisten. Hier, in diesem engen Raum, vermischen sich alle Schichten der Gesellschaft: Arm und reich, Hindu und Muslim, jung und alt. Eng aneinandergepresst, fast Knochen an Knochen, erlebe ich die Vielfalt Mumbais in ihrer reinsten Form. Das Aussteigen aus dem Zug ist nichts für Zaghafte. Man wird von der Masse vorwärtsgetrieben, alles passiert in einem rasanten Tempo. Doch sobald die Spitzenzeiten vorüber sind, wandelt sich das Bild.

Die Atmosphäre im Zug wird merklich entspannter. Jetzt, wo mehr Raum zum Atmen ist, lehnen sich die Menschen aus den offenen Türen, lassen sich den kühlen Fahrtwind um die Nasen wehen und genießen eine kurze Verschnaufpause vom Druck der Menschenmassen. In diesem Zug erlebe ich das volle Spektrum menschlicher Emotionen. Freud und Leid liegen eng beieinander. Während der Fahrt komme ich mit den unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch, höre ihre Geschichten, ihre Hoffnungen und Sorgen. Es sind Begegnungen, die bewegen und berühren.

Mein Weg durch Mumbai führt mich immer tiefer in das Herz dieser vielschichtigen Stadt. Ich erkenne schnell, dass mein Interesse an diesem Ort nicht einseitig ist; auch ich werde zum Objekt der Neugier. In einer Stadt, wo westliche Besucher eher die Ausnahme sind, ziehe ich oft Blicke auf mich und werde schnell zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Offenheit und die ungezwungene Neugier der Inder führen zu vielen interessanten Begegnungen. Besonders in Bandra, wo ich regelmäßig aus dem Zug steige, spüre ich den Kontrast zwischen den Lebenswelten. Westlich der Station residieren die Reichen und die Bollywoodstars in ihren prächtigen Villen. Doch mich zieht es in den Osten, in die Slums, die eine ganz andere Seite Mumbais zeigen. Hier, in den engen und dunklen Gassen, wird das Leben auf eine sehr direkte, unverfälschte Weise gelebt. Die Nähe, in der die Menschen hier zusammenleben, ermöglicht es mir, einen Blick in die Wohnungen und damit in das tägliche Leben zahlreicher Familien zu werfen. Ich werde eingeladen in ihr Zuhause. Ein bisschen komisch fühle ich mich, als der Mann seinem Freund etwas auf Hindi sagt und ihm Rupien in die Hand drückt. Dann verschwindet der Freund.

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Ich stehe im Eingang seiner Einzimmerwohnung, die er mit seiner Frau und seinen Kindern bewohnt. Das seltsame Gefühl wandelt sich schnell in ein warmes, angenehmes Gefühl, als der Freund mit einem kalten Getränk zurückkehrt. Eine Art Cola, die er mir schenkt, und er bietet mir an, für mich zu kochen. Die Menschen hier besitzen nicht viel, zeigen mir jedoch eine beeindruckende Großzügigkeit. Sie leben in engen Familienverbänden und hegen eine tiefe Verbundenheit zu ihren Mitmenschen. Diese starke Wertschätzung bestimmt ihr Glücksgefühl. Mir scheint, dass ihre Werte von jenen reicherer Menschen abweichen, die oft die Bedeutung von Familie, Liebe und Gemeinschaft vernachlässigen. Ich lerne auch, dass nicht alle in diesen Slums arm sind. Es ist ihr Zuhause. Sie sind dort aufgewachsen und fühlen sich dort wohl. Einer von ihnen arbeitet für eine amerikanische IT-Firma und verdient ganz gut. Sie müssten nicht dort wohnen, bleiben jedoch dort und unterstützen einander.

Zu Beginn habe ich erwähnt, dass Mumbai nicht für seine Strände bekannt sei. Das gravierende Abfallproblem, das ganz Indien betrifft, macht auch vor dieser Metropole nicht halt. Obwohl ein Wandel im Gange ist, sind die Müllberge noch immer allgegenwärtig, so auch an den Stränden von Mumbai. Das Meer schimmert in trübem Grau, überlagert von einem dichten Dunst der Verschmutzung. Trotz dieser Umstände erlebe ich am Strand magische Momente. Ich spaziere entlang des Meeres, beobachte, wie die Sonne untergeht und sich die abendliche Rötung mit dem Feinstaub zu einem atemberaubenden, rötlichen Lichtschauspiel vermischt. Eine Mischung aus Romantik und Dramatik entfaltet sich vor meinen Augen. Kinder aus dem angrenzenden Slum toben im Meer, sichtlich unbeeindruckt von der Verschmutzung, und genießen das Schauspiel bis zum Einbruch der Nacht.

Plötzlich fällt mein Blick auf eine ungewöhnliche Silhouette am Ufer. Nicht nur eine. Überall am Strand sind ähnliche Figuren verstreut. Bei näherer Betrachtung erkenne ich, dass es sich um lebensgroße Puppen handelt. Diese Puppen stellen Götter dar und wurden nach religiösen Festen hier zurückgelassen. Warum aber werden diese heiligen Figuren einfach weggeworfen? Diese Frage beschäftigt mich, während ich weiter den Strand entlanggehe. In den Häusern der Hindus steht oft ein Murti, eine Figur des verehrten Gottes, der täglich spirituelle Bedeutung zukommt. Besonders Ganesha, der Beschützer, findet sich nicht nur in Tempeln, sondern auch in Autos, um Reisende zu schützen. Während großer religiöser Feierlichkeiten wie Ganesha Chaturthi werden jedoch größere, prächtigere Murtis aus umweltschädlichen Materialien wie Kunststoff und Gips gefertigt. Traditionell werden diese im Wasser versenkt, um den Übergang ins Spirituelle zu symbolisieren, was heute jedoch die Gewässer verschmutzt und das Ökosystem belastet. Um diese Umweltauswirkungen zu minimieren, hat die Gemeinschaft jedoch begonnen, die Idole in speziell errichteten Becken zu versenken, eine Praxis, die die heiligen Traditionen wahrt, während sie gleichzeitig die ökologischen Fußabdrücke reduziert.

Der Wecker klingelt früh am Morgen um 4 Uhr. Noch sind einige wenige Rikschas unterwegs. Ich ergreife die Gelegenheit und springe auf eine davon, um nach Andheri zu fahren. Dort fährt um halb 5 Uhr der erste Zug Richtung Churchgate. Ein Inder hatte mir vor einigen Tagen vom Fischmarkt „Bhaucha Dhakka“ erzählt, dem größten seiner Art in Mumbai. Ich beschließe, dorthin zu fahren. Ein komisches Gefühl beschleicht mich, als ich dort ankomme. Um 5:30 Uhr morgens ist der Markt bereits in vollem Gange, da die morgendlichen Temperaturen noch erträglich sind – gut für die Menschen und den Fisch.

Stehenbleiben ist keine Option, man muss sich mit dem Strom der Menschen mitbewegen. Dieser ist schnell, denn die Leute sind schwer beladen mit Töpfen auf dem Kopf, randvoll mit Fisch. Ich habe nur wenige Schritte auf das Dock gemacht, da werde ich bereits gestoppt. Es sind keine Fotos erlaubt. Die Kamera muss weg. Ein Polizist, ernst und aufmerksam, folgt mir dicht auf den Fersen und taucht alle fünf Minuten in meinem Blickfeld auf. Ich beobachte das Treiben und bin von den Eindrücken überwältigt. Die Luft ist schwül und der Geruch von Salz und Fisch durchdringt die Nacht. Überall auf dem Dock leuchten grelle Lampen von den Booten. Die Fischer, müde von der langen Nacht auf See, entladen hastig ihre Netze und Kisten, die prall gefüllt sind mit schillernden Fischen. Um mich herum das ständige Ruf und Antwort der Händler, die lebhaft über Preise verhandeln. An den Straßenrändern sitzen Frauen, vor ihnen auf dem Boden ausgebreitet liegt der Fisch. Man findet Haufen von kleinen Meerestieren wie Sardinen und Garnelen, aber auch größere Fische wie Kingfische und Haiflossen. Männer auf Fahrrädern betreiben Schleifmaschinen und schärfen für einige Rupien die Messer der Fischverkäufer. Am Rand der Docks stehen Seeleute, das Ufer ist dicht mit Schiffen belegt. Aus fünf Metern Entfernung werfen diese den Fisch in Töpfen den Männern am Dock zu. In dieser riesigen Hektik und den Menschenmassen wirkt alles dennoch wie eingespielt. Jede Bewegung sitzt, und ich selbst, so fühle ich mich, tanze aus der Reihe dieser hektischen Ordnung. Fehl am Platz stehe ich überall im Weg. Ich ziehe mich kurz hinter die Ecke einer kleinen Baracke zurück, um Luft zu schnappen. Es ist ein guter Aussichtspunkt, etwas erhöht gelegen. Die Kamera in meiner Tasche ruft nach mir. Ich schaue mich um, der Polizist ist nicht zu sehen, und ich schieße schnell das eine Foto. Die Speicherkarte kommt sicher in meinen Schuh und ich setze meinen Weg fort.

Gegen Mitte des Morgens kehrt Ruhe ein. Die letzten Reste der Fische liegen am Boden und werden von Geiern aufgepickt. Die Polizisten sind verschwunden. Frauen sortieren den noch brauchbaren Fisch aus. Fischer liegen schlafend auf leeren, großen Kisten, die auf hoher See mit Fisch beladen waren. Andere waschen sich auf den Booten. Die Sonne verschmilzt am Horizont mit dem Nebel. Es ist wunderbar, zu sehen, wie sich alles in eine idyllische Ruhe gewandelt hat. Ich spreche mit Bootsbesitzern und genieße die entspannte Atmosphäre.​​​

In der lebendigen Vielfalt Mumbais offenbaren sich überall Kontraste, welche das Wesen dieser Stadt prägen. Hier habe ich die unermüdliche Widerstandsfähigkeit und Wärme ihrer Bewohner erlebt, die in jedem Lächeln und in jeder helfenden Hand spürbar sind. Mumbai mag auf den ersten Blick wie ein Ort des Kampfes erscheinen, doch die Menschen hier verwandeln selbst die härtesten Herausforderungen in Momente des Zusammenhalts und der Freude. Wenn ich nun in der Schweiz in einen vollen Zug steige, erinnere ich mich an die Leichtigkeit und das Lachen der Mumbaianer bei ähnlichen Gelegenheiten. Ihre Fähigkeit, aus dem Wenigen das Beste zu machen, hat mich gelehrt, das Leben unbeschwerter und mit einem tieferen Sinn für Gemeinschaft zu sehen. Dieses pulsierende Mumbai, weit entfernt von kalten Metaphern und engen Definitionen, hat mir gezeigt, wie tief Menschlichkeit und Verbundenheit in unserem täglichen Dasein verwurzelt sein können.

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